Auf nach Nigeria
Christian Burchards erste Nigeria-Reise findet im Februar 1985 statt. Dass Christian nicht nur ein hervorragender Musiker, sondern auch ein exzellenter Beobachter war, zeigt sich am folgenden Artikel, den er anschließend für die Ethno-Zeitung Trickster (Nr. 14, Ausgabe August 1985) verfasst hat. Ein Ausschnitt:
Musikreise in ein nigerianisches Dorf (Von Christian Burchard)
„Erin Oshun ist ein großes Dorf ca. 15 km nördlich von Oshogo im Yorubaland, Oyo State, Nigeria. Auf den uns zugänglichen Landkarten war Erin Oshun nicht zu finden, und wir hätten diesen Flecken Erde auch nie betreten, wenn nicht der Trommler Lamidy Ayankunle von dort herkäme. Als Bata und Dun-Dun-Trommler war er schon zweimal mit der Muraina Oyelami Performing Troupe in unseren Breitengraden. Von den gemeinsamen Auftritten war er uns in Erinnerung geblieben, weil er außer Yoruba keine andere Sprache kannte. Jede Verständigung mit ihm hatte deshalb etwas Ursprüngliches. Auch auf der Bühne waren sein Trommelspiel und seine Bewegungen zupackender, eine wilde Konzentration, die uns neugierig gemacht hatte, dort hinzufahren, von wo er herkam.
Im Februar 85 flogen wir, Gerald und ich von EMBRYO, mit ein paar Instrumenten wie Xylophon und indischer Taviltrommel nach Nigeria, auf eine Einladung von Muraina Oyelami hin, der an der Universität Ife Yorubamusik unterrichtet. Dort angekommen zunächst mal keine Spur von Lamidi. Er sei doch der Mann aus dem Busch, hieß es. Dann zwei Wochen später nachts auf einem Ceremony-Fest in Ife für einen verstorbenen Chief, wo einige Fudji und Juju-Bands aufspielten, trafen wir ihn. Er hatte seine große Bata-Trommel umgehängt und ging von Tisch zu Tisch, um den wohlhabender aussehenden Yorubas etwas vorzutrommeln. Diese schienen das zu verstehen, denn die Yorubasprache kann auch getrommelt werden, und nach einigem Zögern wurden ihm ein paar Geldscheine auf die Stirn geklebt. Nicht immer klappte dieses Spiel, auch weil um ihn herum die Band mit ihren voll aufgedrehten Verstärkern einen Höllenlärm machten. Lamidi war nicht schlecht erstaunt, uns hier zu sehen, seine „Oohs!“ wollten gar nicht mehr aufhören.
Als das Fest zu Ende ging, überredeten wir Lamidi noch, mit uns mitzukommen. Wir waren in einer Art Studentenkommune am Rande des Campusgeländes in einiger Entfernung vom Festplatz untergekommen. Der Morgen begann zu grauen, und die tagsüber belebten Straßen waren noch fast leer, als Lamidi auf ein Haus deutete. Da wohnt ein Freund, verstanden wir, er lächelte und schlug ein paar Silben auf seiner Bata, die wie sein Name klangen. Nichts geschah, doch nach einer Weile öffnete sich eine Balkontür, jemand erschien, und sie wechselten ein paar Worte auf Yoruba. Bald darauf setzten wir unseren Weg fort.
Am nächsten Tag war Lamidi wieder verschwunden, doch wir hatten ihm von einem Konzert im Jazzklub von Ibadan erzählt, wo wir mit dem African Linkage Ensemble auftreten sollten, und er sagte zu, da mitzuspielen. Am Tag des Konzertes erschien er mit seinen umgehängten Batatrommeln. Am Abend im Jazzklub dann große Begeisterung bei dem Yorubapublikum. Dieses bestand aus mehr westlich eingestellten intellektuellen Nigerianern, für die die Jazzmusik des African Linkage Ensemble Ausdruck für ihr modernes selbstbewußtes Denken ist. Lamidi, in ihren Augen ein Dorfmusiker, riß sie mit seinen Batatrommeleinlagen zu solchen Begeisterungsovationen hin, daß sie sich wahrscheinlich selbst darüber wunderten.
Am nächsten Tag fuhren wir nicht nach Ife zurück, sondern begleiteten Lamidi mit all unseren Instrumenten nach Erin Oshun. Er wohnte mit seiner Frau, seinem Bruder, Schwager, und wem sonst noch ein paar Häuser weg vom Palast des Oba, des Königs, in einem jener typisch einstöckigen und aus Lehm gebauten Häuser, die mit einem breiten Wellblechdach und kleinen überdachten Terrassen versehen sind. In den Zimmern fast nichts als ein paar Matten auf dem Boden, und an den Wänden bunte Plakate von Fudji-Stars und anderen Größen. Lamidis Brüder hatten eine Art Getränkeshop, wo es Bier und Softdrinks gab. Einige Ziegen liefen wie ganz selbstverständlich durch das Haus.
Wir warteten, aber den ganzen Tag über war keine Trommel zu hören. Ob im Restaurant, in der Bierbar oder im Palmweinshop, überall nur Musik aus dem Lautsprecher. Dann gegen Abend hatten die Gastgeber beschlossen, uns einige Yoruba-Rhythmen zu zeigen. Vor dem Getränkeshop saßen schon jede Menge Kinder. Ein paar schlugen wie große Könner auf die Gudu Gudu. Die halbe Familie hatte Platz genommen, immer mehr Leute, die nur zufällig vorbeigingen, blieben stehen, und so begann unsere Lektion. Wir machten das nach, was Lamidi uns vortrommelte, erregten damit aber mehr Heiterkeit, denn jedes Kind konnte das besser als wir. ‚Dance‘ rief jemand, man nahm uns die Trommeln aus der Hand und begann den Rhythmus vorzutanzen. Die Schultern mussten nach vorne zucken, der Hintern wie ein Entenschwanz sich hin- und herdrehen, und unsere kläglichen Versuche, uns mehr als peinlich, bereiteten vor allem den Kindern das größte Vergnügen.
Später erfuhren wir, daß Unterricht, so wie wir ihn verstehen, bei den Leuten in Erin Oshun unbekannt ist. Die Kinder bekommen das ganze Wissen mehr oder weniger nebenbei mit, und wenn einer dann so wie Lamidi Trommler werden will, geht er einfach mit den Großen mit. Immer wenn es dann Musik gibt, steht er mit seinen Trommeln da und folgt den Schlägen, wie sie von den Erwachsenen gespielt werden. Niemand sagt ihm, das sei falsch oder richtig, oder das habe er so oder so zu spielen. Er ist dann irgendwann Trommler…“[1]
Demut vor der Kunst der anderen. Neugier, Geduld und Lerneifer. Das sind die wesentlichen Eigenschaften, die die Band Embryo im Reisegepäck hat und gegenüber anderen Menschen und Künstlern zeigt. Meine Frage – Ist Musik Text und Text Musik? – kann mit den sprechenden Trommeln der Yoruba mit – Ja – beantwortet werden. Auf einer zweiten Reise nach Nigeria ein Jahr später, als Dieter Serfas dabei war, betrat man Fela Kutis Schrein. Da passierte folgendes: Einer der Trommler löste sich aus dem Kreis der hockenden Gruppe, stand auf, um wohl draußen etwas einzukaufen. Ein anderer trommelte irgendetwas. Was geschah? Der Mann kam mit einem Getränk und einer Packung Benson&Hedges zurück. Jahre später, als Lamidi und einige Yorubas in München zu Gast waren, so erzählt die Tochter Marja, stand ein Trommler in der Wohnung plötzlich auf, und das ganze Schauspiel wiederholte sich. Es funktioniert also irgendwie mit der Trommelsprache.
Musik ist Sprache und umgekehrt, und du kannst alles verstehen, wenn du dich auf fremde Klänge und Kulturen wirklich einlässt. Das kann Wochen, Monate, Jahre dauern und ist auch nie wirklich abgeschlossen. Ein resultatives Perfekt gibt es nicht, eher ein Zwischenabschnitt, der weitere Türen zeigt und öffnet. Marja Burchard hat mit den südmarokkanischen Gnawa-Musikern fünf Stunden lang musiziert, bevor diese feststellten: „Okay, du interessierst dich wirklich für unsere Musik.“ Erst dann ist sie in die tieferen Geheimnisse ihrer Musik eingeführt worden.
[1] Ethno-Zeitung Trickster (Nr. 14, Ausgabe August 1985)
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