Charles Bronson vor Berlin – Wir sind vom Hof
…das sollte am nächsten Tag vor den Toren Berlins anders werden. Dieter Serfas ist jedenfalls irgendwann verschwunden, und wir gehen schließlich ohne Vermisstenanzeige zu Hannes. Mir ist noch nach einem Bier, und ich warne vor, dass ich ein großer Schnarcher bin. „Im Schlaf ist man ehrlich!“, antwortet Marja lächelnd kryptisch. Ich sitze noch mit einem Bier in der Küche und denke: Embryo ist das Past und das Present, das Plusquamperfekt, die Vorzeitigkeit, denn sie sind mit ihrer Musik immer vorzeitig da, wo andere Bands erst später hinkommen. Irgendwann ist die Nacht dann am tiefsten, ich in Scherben, und alle schlafen selig in Hannes‘ Wohnung ein. Er selbst hat das Feld geräumt und schläft woanders…what a man…what a man!
Am nächsten Morgen hole ich Brötchen und Aufschnitt. Ich sitze allein in der Küche und denke nach. Ich bin natürlich auch zum Konzert gefahren, um endlich den Kalauer „Hofschreiber oder Hofbiograph der Band“ irgendwie noch anbringen zu können. Nein, ich bin hingefahren, weil ich Bock auf die Musik hatte und gespannt darauf war, wie so die Leerlaufzeiten und die Bustouren verbracht werden. Zugleich beschlich mich das Gefühl, dass dem Buch noch ein großes Gegenwartskapitel fehlt, denn die „Geschichtslastigkeit“ der Band ist natürlich allenthalben zu spüren. Das Erbe beflügelt die Band auf der einen Seite, kann aber auch zur Last werden, denn ständig drohen Vergleiche. Und machen wir uns nichts vor: Überall lauern diejenigen, die sagen, dass früher alles besser war.
Irgendwann stehen alle auf, und wir frühstücken gemeinsam. Hannes kommt mit gehacktem Ziegenfleisch, das später in ein Nudel-Bolognese-Gericht mündet. Ich will mehr über seine Arbeit als Schäfer wissen, und er erzählt mir von Wölfen, die aus Tschechien kommen und ein wirkliches Problem darstellen. Und dazu noch die vielen nicht widerspruchslosen Umweltauflagen, die einzuhalten sind. Das sei alles mittlerweile Wahnsinn. Um die Mittagszeit erreicht Marja ein Anruf vom Veranstalter in Briese…. Wäre doch gut, wenn Embryo um acht Uhr anfangen würde. Angekündigt war das Konzert um zehn Uhr abends. Wir essen zu Mittag, Gregor Platzeck kommt noch einmal vorbei und sagt tschüss. Gegen zwei Uhr geht es endlich los Richtung Berlin.
Wolfi fährt, und ich werde zum Beifahrer auserkoren. Aus guten Gründen. Hinten kann man nämlich im Bus pennen. Vorne nicht. Ich suche nach Sitzgurten, finde keine. Marja erklärt mir, dass der Bus eine Sondergenehmigung habe. Er dürfe auch nur … Kilometer pro Jahr fahren. Da sei man schon … drüber. Meine Aufgabe ist es zudem, vorne auf scheppernde Metallverdecke zu hauen, falls es zu laut wird. Ich verstehe nur BahnHOF. Als der Bus anspringt, bekomme ich eine erste Ahnung. Auf der Autobahn weiß ich dann endgültig Bescheid. Laut ist er, der Bus. Aber er läuft gut. Im Bus läuft türkische Musik. Ich darf lauter drehen. Die Musik haut mich um. Ich weiß bis heute nicht, was das war. Eine Qual. Wir verlassen Bayern und passieren die thüringische Landesgrenze. Jakob hinter mir bricht in lautstarkem Jubel aus. Ich frage nicht weiter nach. Ist wohl ein Insider-Ding. Er reicht mir türkische Süßwaren. „Das Erlebnis vergisst du nie wieder.“ Er behält recht, denn die klebrige Masse massakriert meinen Gaumen den ganzen Tag. Wir unterhalten uns über Geschichte und die Ottonen, und ich bin erstaunt, wie viel er darüber weiß. Erst später fällt mir wieder ein, dass Jakob einem alten Adelsgeschlecht entstammt, nämlich der Familie Thun Hohenstein. Das Interesse für so etwas ist da angeboren. Marja und Maasl pennen hinten. Da ist eine kleine Nische, wo Matratzen ausgelegt sind. Da können zwei pennen. Gegen sechs Uhr, anderthalb Stunden vor Berlin, beginnt Marja, Spannung aufzubauen. Sie legt eine Kassette ein. Es ist das gestrige Konzert von Hof. Später höre ich noch die Aufnahmen vom Queck Meck-Festival in Schlitz. Meine Güte – ist das alles gut, denke ich. Marja hört dagegen ein paar Schwachstellen. Ich scherze, dass ich die Band, die da spielt, sowieso scheiße finde. Sie ranzt mich an, dass es bei dem ganzen ProgRock, den ich höre, kaum zu glauben sei, dass ich Embryo-Fan bin. „Nein, aber ich mag ja auch den Scheiß“, fügt sie hinzu. Um dann lautstark eine Kassette mit Jazz-Rock einzufordern. Wir erreichen gegen kurz vor halb acht Brieselang, sind also dreißig Kilometer vor den Toren Berlins. Wir erreichen die Spielstätte. Und der kleine Albtraum beginnt.
Wir biegen in eine Hoffahrt ein (immer dieses Hof dabei…). Links ein total verfallenes Haus. Rechts schmucke Neubauten. Das ist krass. Links Deutschland Z. Rechts Deutschland A. In den Vorgärten von Deutschland A wird gegrillt. Zwei Männer in Polo-Hemden schauen von Deutschland A aus entsetzt zum Bus hin, der da gerade vor ihnen einbiegt. Ich sehe ihnen von weitem an, dass sie gerade wieder durchrechnen, wie stark ihr Grund- und Hauswert angesichts dieser Nachbarschaft und solchen kuriosen Gästen noch einmal sinkt. Wolfi schaut mich an. Ich schaue ihn an. Ein langgezogenes…okay???!!!…kommt über seine Lippen. Wir lächeln.
Wir steigen aus. Hinten im kleinen Garten von Deutschland Z sitzen fünf Männer mit Corona-Bier und begrüßen uns. Ich erkenne, dass Locko Richter unter ihnen ist. Jener Locko Richter, von dem mir schon so viel Positives erzählt wurde, was seine musikalischen Qualitäten angeht. Er steuert auf uns zu, begrüßt uns. Der Veranstalter, ein Maler und Musiker, führt uns ins Atelier. Und ich schaue gleich auf die Bilder an der Wand und bin fasziniert. Das kann nicht weg, das ist Kunst. Wahnsinn, diese Bilder. Da gibt es eine King Crimson-Platte „In The Court Of The Crimson King“, da ist eine Fratze drauf. Ich sehe entlang der Galerie nur solche wahnsinnigen Bilder. Für einen Moment bin ich entrückt. Am liebsten würde ich alle gleich mitnehmen.
Die Band baut gleich die Instrumente auf. Etwa zehn Leute füllen mittlerweile das Atelier, sitzen da, schauen der Band beim Aufbauen zu. Ein drahtiger Mittvierziger steuert auf Marja zu. „Und? Ihr? Seid ihr nur zum Spaß hier?“ Mir bleibt angesichts dieser Frage die Spucke weg. Bei der Antwort von Marja verschlucke ich mich. „Ne, wir haben gehört, du hast voll viel Kohle und willst uns für diesen Auftritt richtig was geben!“ Jeder, beinahe jeder wäre bei dieser Antwort K.O. gegangen, hätte sich weggeschlichen. Nicht so dieser Mann, der bald von mir den Namen „Charles Bronson von Brieselang“ erhalten sollte. Er schwadroniert noch, dass er auch viele Instrumente spiele und klugscheißert auf der Bühne, wie die Instrumente angeschlossen werden müssten. Ich gehe raus, so sehr hat mich allein diese Szene schon beschämt. Draußen auf der Straße kommt mir eine junge Reiterin entgegen. Das Pferd ist riesig. Ich gucke ihr nicht nach, gehe weiter nach vorne. Marja erzählt mir später, dass die Reiterin die Tochter des Veranstalters sei und mit dem Pferd in die enge Hofeinfahrt eingebogen sei, wo das Pferd beinahe den Bus und die restlichen Instrumente draußen retuschiert habe. Surrealer geht es nicht mehr. Pferd und Tochter hätte ich eher Deutschland A zugeordnet. So kann man sich vertun. Ist aber eh nur ein Klischeebild. Allein die Klärung, wo das Pferd seinen Parkplatz gefunden hat, ist für mich noch einmal eine Reise nach Brieselang Wert.
Wir gehen in die Küche. Catering Fehlanzeige. Im Kühlschrank nur Bier. Es fehlt Öl. Jakob macht sich mit einem der Gäste auf den Weg zum Rewe, um noch Öl zu holen. Als er zurückkommt, nimmt er Töpfe und Kaffee aus dem Bus, kocht Nudeln und das gehackte Ziegenfleisch von Hannes, das der uns freundlicherweise als Proviant mitgegeben hat. Um das mal kurz festzuhalten: Da spielt die Band schon umsonst, und nichts ist da vorbereitet, rein gar nichts. Nicht einmal ein Hinweis, wo irgendwie irgendwas steht. Und das nach fünf Stunden Fahrt! Aber die Band bleibt cool…
Ich sitze mit Locko in der Küche an der Bar, wir unterhalten uns nett, schauen Jakob und Maasl beim Zubereiten des Essens zu, als plötzlich ein Problembär die Szenerie betritt und Jakob wegen der Selbstbedienung ankackt. Er rastet völlig aus, ist sehr aggressiv. Locko macht ihn auf seine Gastunfreundlichkeit aufmerksam und erzählt uns, dass es genau diejenige Person sei, warum hier die Leute nicht mehr hinkommen. Ich erkenne ihn als denjenigen wieder, der vorher noch das Bühnenlicht anmontiert hat. Wir holen den Veranstalter hinzu, der ihn nur notdürftig mit der heiseren Stimme einer Fünf-Millimeter-Maus zur Vernunft bringen kann und ihn rausführt. „Und hier wollt ihr spielen?“, frage ich Maasl ungläubig. „Und schlafen?“, ergänze ich. Marja stößt wieder hinzu, und wir erzählen ihr, was vorgefallen ist. Man überlegt, ob man überhaupt noch auftritt. Jakob ist es, der lapidar sagt: „Nun, jetzt sind die Instrumente aufgebaut.“ Das Essen ist fertig, dennoch wird man gebeten, nun doch einmal anzufangen. Zwischenzeitlich ist das Essen fertiggeworden, aber es wird stehengelassen. Und Maasl hat noch eben einen Maik aus Berlin wegen einer Schlafmöglichkeit angerufen, und wir haben beschlossen, noch in der Nacht nach Berlin aufzubrechen, weil Maik seine Wohnung angeboten hat.
Das Konzert beginnt. Viele sind angesichts der Ereignisse abgehauen. So beginnt die Band vor etwa einer Hand voll Leuten, die weiter munter und laut reden, zu spielen. Und es ist großartig. Es ist für mich ein Wunder, dass man nach diesen Ereignissen so auftreten kann. Irgendwann mittendrin schaue ich mich um und sehe, dass ich allein im Atelier bin. Ich nehme mir mehrere Bier aus dem Kühlschrank und ziehe das mit dem SB jetzt vollständig durch. Plötzlich kommen wieder ein paar Leute rein, darunter auch Charles Bronson. Ich hatte Wolfi schon vorgewarnt und ihn vor Konzert darauf hingewiesen, dass ich heute zum ersten Mal Embryo mit Mundharmonika höre. Genauso kam es. Charles Bronson spielt das Lied vom Tod des Konzerts, zumindest für mich, denn nach dem Westerntopf in Hof, der gut war, bin ich nicht mehr bereit, mich auf irgendein Western-Motiv noch einzulassen. Jetzt verlasse ich die Location, sitze draußen im Vorgarten, bis ich Charles Bronson wieder da sehe. Er setzt sich zu mir und sagt: „Jetzt habe ich der Band mal richtig Feuer unterm Arsch gemacht. Waren sehr lahmarschig.“ „Ja? Hast du? Dann kann ich ja jetzt wieder reingehen“, antworte ich. Ich muss mich fast übergeben. Locko Richter wird endlich gebeten die Bühne zu betreten, und was der an der Gitarre spielt, wie der sich einbringt, ist phänomenal. Jetzt bin ich wieder drin, bis, ja bis zum nächsten Auftritt von Charles Bronson. Mittlerweile haben auch der Veranstalter und andere Musiker die Bühne betreten und den ganzen Sound in Blues umgewandelt. Aber dafür kommen die abtretenden Maasl, Marja, Wolfi, Jakob und ich endlich dazu, in der Küche die Nudeln zu essen. Der Abend ist vorübergehend gelaufen. Charles Bronson von Briese… hat für mich das Konzert kurzzeitig gesprengt, aber eine gute Seite hatte die Sache. Ich bin noch mitten in der Nacht nach Berlin gekommen, es war so gegen vier Uhr, als wir ankamen. Aber vorher hat die Band noch immer wieder mitgejammt. Was für ein Spirit. Da fand ich doch alles wieder großartig und einmalig.
Maik hat uns noch spätnachts die Tore geöffnet, und dann haben wir noch ein wenig gesprochen, aber alle waren angesichts des aufregenden Abends doch recht fertig. Während die Band schlafen geht, beschließe ich, die Nacht durchzumachen, weil ich morgens ganz früh mit dem Zug zurück muss. Maik sitzt mit mir netterweise weiter zusammen, erzählt mir von seinen Bielefelder Zeiten in der Kommune „Auf der Lust“ und davon, dass er beim Fernsehsender Arte arbeite und übermorgen für eine Dokumentation nach Georgien muss. Er übergibt der Band für eine Woche die Schlüssel, findet das normal, weil er so eine klasse Band unterstützen will. Irgendwann schlafe ich unhöflicherweise auf dem Stuhl ein und wache rein zufällig gegen kurz vor acht auf. Und wie auf Geheiß wacht auch Maik auf, bestellt mir kurzerhand ein Taxi zum Ostbahnhof, rettet mein Leben, und ich erreiche meinen Zug keine Sekunde zu früh. Danke Maik. Danke an die Band. Und danke an den Veranstalter, auch wenn nicht alles so gerade lief. Einer von tausend Träumen, die ich habe, ist in Erfüllung gegangen. Das, was ich zwei Tage erlebt habe, ist Alltag für die Band. Das hat mich nachdenklich werden lassen, weil es Kraft raubend ist, erhöht aber meinen Respekt vor ihr noch einmal deutlich.
Ciao Ciao
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