Embryo auf dem Free Flow-Festival in Kassel am 09.10.2020 – Ein Konzertbericht

Wenn man bei einer Band auf dem Trip von Superlativen ist, ist die Fallhöhe messertief. Es mag den Kritik gewohnten Leser langweilen, wenn aus Superlativ nun Superlativer wird, eine negative und distanzierte Berichterstattung immer unmöglicher wird, und eine Lobhudelei die andere jagt. Bei Embryo geht es nicht anders. Wenn man der Spielfreude und Virtuosität der Münchener Band zuhört, scheint die Flughöhe himmelweit offen zu sein und auch zu bleiben. Der Auftritt gestern beim Free Flow Festival im Sandershaus war Weltkassel – das Wortspiel kann ich mir nicht verkneifen. Novum für mich: Ich habe sie noch nie in einem Beduinenzelt spielen sehen, einfach, weil ich gestern zum ersten Mal auf dem traditionsreichen Free Flow-Festival in Kassel war.

Nach den Embryo Live-Auftritten in Augsburg und Hildesheim war dies nun mein drittes Live-Konzert der Band dieses Jahr. Auf der Rückfahrt am Samstagvormittag ereilte mich der Traum: Beam me up, wenn ihr spielt, liebe Band! Als Kind fand ich es eher gruselig, wenn Kirk und Spock im Raumschiff Enterprise plötzlich auf so einer Bühne standen, um sich woanders hinzubeamen. Nach den Konzerten von Embryo wünsche ich mir mittlerweile regelmäßig, dass eine App erfunden wird, die das möglich macht und mich bei jedem ihrer Konzerte dabei sein lässt.

Bei der herausragenden Tänzerin Anna Orkolainen verschwommen die Perspektiven – Bildquelle: Christian Hanewinkel

Stupor Mundi – Das Staunen der Welt beim Butoh-Tanz

Das Konzert in Kassel gestern war ein Spektakel der besonderen Art, und das lag zu einem großen Teil auch an der fantastischen, finnischen Tänzerin Anna Orkolainen. Ich würde mal frei behaupten, dass ich von Geburt an der größte Tanzmuffel auf dieser Welt bin und entsprechend immer Befremden bei Musik-Konzerten gespürt habe, wo Tänzerinnen und Tänzer auftauchten. Für mich ist Musik, und gerade die Musik von Embryo, immer eine ausdrucksstarke Performance für sich, die keine Verstärker oder Ablenker durch Tanzeinlagen braucht. Gestern habe ich gemerkt, dass ich noch viel über Kunst lernen muss, denn mit dem phänomenalen Auftritt von Anna Orkolainen haben sich bei mir wieder einmal Welten verschoben, sind neue geboren worden.

Elfengleich wie eine König des Waldes – Bildquelle: Christian Hanewinkel

Anna tanzte zunächst im weißen Gewand und einer geweihähnlichen Baumkrone als Königin des Waldes den freien Tanz des Butoh, eine Tanzform, die in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Zu den anfangs experimentellen Passagen der Band wirkte ihr Tanz und ihre Mimik wie eine spannungsgeladene Traumwandlung, die das Publikum in eine surreale Zeit überführte. Schockierende Körperverrenkungen gepaart mit weißer Schminke im Gesicht hielten die Zuschauer in faszinierter Atemstarre, die erst aufhörte, als Bandleaderin Marja kräftig in die Tasten haute und der überaus gut aufgelegte Schlagzeuger Sebastian Wolfgruber der Elfin Anna vom Boden aufhalf, in eine neue Phase der Traumwelt einzutreten. Dieser magische Moment war die Fahrt alleine wert.  

Sascha Luers Magie an Trompete und Sax

Die Performance von Embryo gestern, die ohne den Gitarristen Jan Weissenfeldt auskommen musste, ist für Blasinstrumente perfekt gewesen, und entsprechend stark waren die Einlagen von Sascha an der Trompete und am Sax. Spätestens seit der Komposition „Besh“ hat mich Saschas eigenwilliger Spielstil vollends überzeugt, und gestern waren seine Virtuosität und sein Musikgefühl besonders deutlich zu hören. Der Sound im Zelt war optimal, und wie arabisch seine Trompete klingt, bleibt für mich ein wundersames Geheimnis, auch wenn er es mir nach dem Konzert versucht hat, zu erklären. Irgendwas zwischen B2 und B6 in Moll, aber bei b2 und b6 denke ich als Schachspieler viel zu schnell an Bauernvorstöße. Noten werde ich in diesem Leben nicht mehr lernen, aber hören kann ich, und das war Extraklasse, was Sascha gestern gespielt hat. Für mich war Sascha Luer neben Anna der Held des Abends.

Sascha Luer und die Magie der Trompete Bildquelle: Christian Hanewinkel

Die Band tauchte gestern in neue Dimension ein

Im Publikum war man unter anderem begeistert vom Schlagzeuger Sebastian Wolfgruber – Bildquelle: Christian Hanewinkel

Maasl Maier an Bass, Marja Burchard am Vibraphone und an der Orgel, und Sebastian Wolfgruber sind momentan unschlagbar, wenn es um Klangsound und gegenseitiges Verständnis füreinander geht, und ich habe gerade das Gefühl, als wenn die Band in ihrer Musik unbeirrt den Weg der unendlichen Spielbreite geht, sich ständig neu ausprobiert. Das war zwar immer so bei Embryo, aber gerade gestern war deutlich zu spüren, dass man metaphysischen Klangwelten immer mehr Platz einräumt. Das scheint mir neu zu sein. Als Anna später in einem kurzen, schwarzen Nonnenkleid tanzte, fühlte ich, dass hier gerade eine unvergleichliche Musikerzählung ohne Worte stattfindet. Zwischenzeitlich schrie Marja Urlaute ins Mikrophon, die donnernd nachhallten, um dann vom Schlagzeuger Sebastian aufgefangen zu werden. Der fast dreistündige Auftritt war ein fesselndes Erlebnis der besonderen Art, und einmal mehr fuhr ich heute alleine zurück mit der Frage: Verdammt, warum hast du nie ein Instrument gelernt?

The base is the place

Wie immer muss man die wundervollen Orte erwähnen, an denen solche Kunst noch stattfinden kann, und da ist dem Sandershaus in Kassel einschließlich seines Personals und dem Betreiber Heiko zu danken. Der Ort strahlt wirklich „Free Flow“ aus. Als ich heute Morgen beim Kaffee saß, anschließend einen Blick auf die Bibliothek warf, entdeckte ich das Werk „Um geboren zu werden“ vom chilenischen Schriftsteller Pablo Neruda. Dieser Schriftsteller steht schon lange auf meiner Liste, und der Titel passte zum vorangegangenen Musikerlebnis. Als ich mehr und mehr eintauchte ins Buch, fast gar nicht mehr den Blick von diesen Prosaschriften lassen konnte, fragte ich Heiko, ob ich ihm das Buch abkaufen könne. „Nimm es einfach mit und bring mal ein anderes wieder! Ist ja eine Tauschbibliothek.“ Versprochen, Heiko, ich komme wieder zu diesem herzlichen Ort, der Flüchtlingen Platz bietet, vielen Menschen eine Kulturheimat ist und Band und Zuschauer so liebevoll bedient hat. Danke!

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