Gnawa, Marokko und die Trance von Menschen und Musik
Embryos große Liebe galt und gilt noch immer Marokko. Schon Anfang der 70er unternahm man eine erste Reise nach Nordafrika. Zunächst ging es aber nach Spanien und Portugal. Alexander Simmeth beschreibt in Krautrock International die Bedenken, die man auch auf politischer Seite hatte. Sowohl in Spanien als auch in Portugal herrschten noch Diktaturen. Die Reise 1972 wurde vom Goethe-Institut unterstützt.
Der Generalkonsul der BRD in Portugal schrieb dazu folgendes: „Er sei ‚mit dieser Art von Musik nicht sonderlich vertraut und könne daher nichts über die künstlerische Qualität der Musik sagen; das Auftreten der Gruppe, insbesondere das ‚Entrée der Gruppe‘ fand er allerdings ‚keinesfalls günstig‘. Zwar habe man erfolgreich verschweigen können, dass einer der größten Erfolge von Embryo der Titel, Espagna Si, Franco No sei, die Mitwirkung einiger Gruppenmitglieder auf einem Album von Amon Düül II mit dem anstößigen Titel Phallus Dei sei aber im Programmheft abgedruckt gewesen. Die ‚ungepflegte äußere Erscheinung und die vermutlich von Rauschgift verheerten Züge einzelner Gruppenmitglieder‘ hätten nur bei einem Teil der jungen Portugiesen Eindruck gemacht, aber ‚immerhin waren die beiden VW-Busse der Gruppe, wo immer sie sich zeigten, von jungen Mädchen umlagert.“[1]
Uta Hofmann, die Frau von Embryo-Mitbegründer Edgar Hofmann und damalige Managerin der Band hat die Tour mitorganisiert. Sie schreibt dazu: „Diese Tour habe ich vorbereitet und war auch dabei. Der Generalkonsul war ein geiler Typ. Er führte mich in seine Bar und ich durfte Portwein von 1937 probieren – anschließend wurde er zudringlich. Ich klopfte ihm auf die Finger und habe den Raum schnellstens verlassen. Ich kann mir denken, daß der sauer war. Übrigens die Konzerte waren super. 1500 Leute in Porto und in etwa soviel auch in Lissabon. Salazar war damals schon Geschichte und es herrschte eine tolle Atmosphäre in den Städten. Überall saßen junge Leute zusammen und diskutierten. Ich kann mich nicht erinnern, daß die Busse von jungen Mädchen umlagert waren.“
Anschließend ging es nach Nordafrika weiter, wo man in Marokko, Algerien und Tunesien spielte. Aus dieser ersten Begegnung mit der berberisch-arabischen Kultur ging die Liebe zum Land hervor, die Christian Burchard nie verlieren sollte. Über die Jahrzehnte des Bandbestehens ist Marokko das mit Abstand meist bereiste Land. Hier sind viele Netzwerke und Freundschaften mit Musikern entstanden, die bis heute bestehen. Marokko gilt als eine Art Feuertaufe für Embryos Musiker, und Valentin Altenberger, der Mitte des Neuen Jahrtausends zur Band hinzustieß und unter anderem die Oud spielt, berichtet mir am Telefon, wie nachhaltig Marokko auch auf ihn gewirkt habe. In der empfehlenswerten Dokumentation „Free4everYthink“ von Embryo-Mitglied Michael Wehmeyer, die eine Filmkompilation über Christian Burchard und Embryo von 1968-2016 ist, hören wir Lothar Stahl, der davon berichtet, dass Christian dort von Kindern bereits mit „Papa Burchard“ angesprochen wurde. Besonders beeindruckend sind dabei immer die Zusammenkünfte mit Gnawa-Musikern gewesen.
Die ethnische Minderheit der Gnawa bevölkern vor allem den Süden Marokkos, kommen ursprünglich aus dem subsaharischen Gebiet, und sind wohl im 15. oder 16.Jahrhundert nach Marokko gezogen.[2] Musik spielt in den Ritualen der Gnawas eine zentrale Rolle bei der Heilung von Seelen, die von bösen Geistern besessen werden. Gnawa sind Muslime, ihre besonderen Rituale weisen aber vorislamische Praktiken auf, die man dem Sufismus im Islam zuordnet, also jenen alten Strömungen, die auch mystischen Vorstellungen im Islam Platz lassen. Lange Zeit galten sie in Marokko als Sekte. Heute schätzt man sie auch aufgrund ihrer rhythmischen Musik, die Menschen in Trancezustände versetzt. Schon Jimi Hendrix zog es 1969 nach Diabat hin, einem kleinen Dorf in der Nähe von Essaouira, wo noch heute ein großer Kern der Gnawa-Gemeinde lebt.
In der Kultur der Gnawa hat der Marabut eine wichtige Rolle, weil er wie bei den Sufis den Heiligen gleichgesetzt werden kann. Der Name hat mit dem subsaharischen Vogel Marabu (auch bekannt aus Grobschnitt’s Rockmärchen Rockpommel`s Land) wohl nichts zu tun. Die Wirkung des Marabuts kann Segen als auch Fluch bedeuten. In stundenlangen Tanzritualen und Gesängen hat Musik die Funktion, die bösen Geister bei Menschen zu vertreiben, die krank sind. Bekannt geworden sind die Gnawa insbesondere aufgrund ihrer rhythmusbetonten Musik. Wesentliche Hauptinstrumente sind Ṭbal (eine mit Stöckchen geschlagene Fasstrommel), Sintir (Langhalslaute, häufig mit einem Resonanzkörper aus einem Schildkrötenpanzer) und Gimbri/Gembri- das ist eine dreisaitige Langhalslaute mit rechteckigem Resonanzkörper aus Holz). Hinzu kommen noch metallene Gefäßklappern Qarqaba (Pl. Qaraqib). Bei nächtlichen Layla- oder Derdeba-Ritualen wird die Musik ihrer eigentlichen Funktion zugeführt. Bei diesen Zeremonien, die aus Musik, Tänzen, ritualisierten Tabubrüchen und einem Tieropfer bestehen und zwölf Stunden dauern können, vertreibt man böse Geister und ruft andere an. Maleem Mahmoud Gania, der 1951 in Essaouria geboren wurde und 2015 verstarb, ist wohl einer der bekanntesten Vertreter der Gnawa-Musik, nicht zuletzt, weil er bereits mit Carlos Santana aufgetreten ist. Embryo hat mit ihm 1998 erstmals zusammengespielt, und einige Tracks sind auf der Doppel-CD Istanbul-Casablanca zu hören.
Um zu verdeutlichen, dass Musik und ihre Instrumente immer eine Geschichte haben, macht es an dieser Stelle Sinn, ausführlicher zu werden, nicht zuletzt, weil Embryo die Art und Weise des Zugangs zur Musik, den die Gnawa bis heute pflegen, sehr schätzt. Die Ṭbal könnte als Instrument auf den Isis-Kult in Ägypten zurückgehen. Gesicherte Angaben gibt es hier nicht. Mit der Islamisierung der subsaharischen Regionen im 11. Jahrhundert erhielten die Ṭbal sowie arabische Grundmotive in der Musik Einzug in den subsaharischen Ländern. Bei der Fasstrommel gibt es dabei unterschiedliche Spielweisen, die sich auch in Marokko wiederfinden. Während berberophone Gnawas das Instrument mit nur einem Schlegel und einer Hand spielen, bevorzugen arabophone Gnawas die Spielweise mit zwei Händen und zwei Stöckchen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die kulturelle Vielfalt in Südmarokko noch heute daran erkennbar ist, dass sich vor allem in ländlichen Regionen Berber, mitunter auch Tuaregs, Gnawas und andere ethnische Minderheiten im Austausch kulturell befruchtet haben, sodass die Huhn- oder Ei-Frage kaum beantwortbar ist, wir nebeneinander sehr unterschiedliche Rhythmen in der Musiklandschaft hier vorfinden können. Zwar bestehen die Berber (Imazigh) bis heute darauf, dass sie das Urvolk der Region sind, aber in gleichem Atemzug lassen sie sich auch gerne Tuaregs nennen, weil das Touristen anzieht.
Ein Marokkaner, den ich in einem Sprachkurs für Geflüchtete unterrichtete, erklärte es mir auf Französisch so (und ich hoffe, ich habe es richtig verstanden): „Eigentlich gibt es in Marokko so gut wie keine Tuaregs. In Algerien, ja, aber in Marokko nicht. Aber weil Wüstentouren bei europäischen Touristen beliebt sind, die Tuaregs in Europa als das bekannteste Volk der Wüste gelten, haben sich manche Berber den Namen der Tuaregs angeeignet, lassen sich so nennen, weil sie damit mehr Geld verdienen können. Aber eigentlich ist das eine Lüge.“ Beim bereits erwähnten Laila-Ritual setzen die arabophonen Gnawas die Ṭbal ausschließlich in der Eröffnung ein, während es bei den Berbern recht durchgängig in Musikaufführungen eingesetzt wird.
Die Gembri ist eine mit Kamel-oder Ziegenfell bespannte, dreisaitige Basslaute. Die drei Saiten bestehen aus Ziegendarm. Ich habe mit dem marokkanischen Gembri-Spieler El Houssaine Kili zwei Embryo-Konzerte Anfang der Neunziger gesehen und war tief beeindruckt vom Sound, den die Laute abgibt. Auf der Platte „Turn Peace“ von Embryo (1989) ist das wundervolle Stück „Hob ou Salam“ mit ihm zu hören. El Houssaine Kili, der 1955 in Agadir geboren wurde, hat dabei seinen Weg schon frühzeitig in der Verschmelzung von arabischer und westlicher Jazz-Rock-Musik gefunden. Christian Burchard traf ihn erstmals 1977 in Marokko, wo man zwei Monate lang miteinander tourte.
Am Ende des Halses der Gembri wird in Ritualen ein blechernes, rundovales Eisenstück angehängt, das als Eingangstor der Geister betrachtet wird. Daher gehört auch die Basslaute zum unverzichtbaren Instrument bei den Gnawa-Musikern. Als Instrument kann sie gezupft und geschlagen werden, hat also perkussive und melodische Lautmöglichkeiten, die einen einzigartigen, unverkennbaren Klang erzeugen.
Ebenfalls auf Embryo-Konzerten Anfang der Neunziger lernte ich die Qarqaba, die Gefäßklappern, kennen. Mal wurden sie von Chris Karrer, mal von Dieter Serfas gespielt. Ich habe damals laienhaft Kastagnetten gesagt, weil ich damit immer irgendwie Flamenco und Spanien verbunden hatte. Lauttechnisch funktionieren sie beide etwas anders, aber in der Tat besteht eine Verwandtschaft zwischen Qarqaba und Kastagnetten. Beide stammen sie aus dem Orient.
Nach der Eroberung Spaniens
durch die Mauren im Jahre 732 n.Chr. sind entsprechende Instrumente in
Abwandlungen vermutlich nach Spanien gekommen. Sie werden auch Krakebs genannt,
bestehen aus vierteiligen, idiophonischen Metallrasseln, die jeweils paarweise
in der linken und rechten Hand gespielt werden. Bei ihrem Klang erinnerte es
mich immer an eine fluchende Klapperschlange, aber die Wucht, mit der die
Qarqaba die Rhythmen antreibt, ist schon einzigartig. In der Gnawa-Musik
versinnbildlichen sie dagegen den Galopp eines Pferds, der für die
Sklavenmärsche der Gnawas aus der Subsahara steht.
An diesen Beispielen
erkennt man, wie tief Musik und Instrumente mit der Geschichte und Kultur von
Menschen verbunden sind, wie sie von Generation zu Generation weiter tradiert
werden. Die Gnawas führen noch heute ihre stundenlangen Musik- und Tanzrituale
durch, und viele Embryo-Musiker berichten mit Begeisterung von den unzähligen
Sessions in den Häusern befreundeter Musikerfamilien
[1] Alexander Simmeth, Krautrock Transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968-1978. Bielefeld 2016. S.154.
[2] https://www.penn.museum/documents/publications/expedition/PDFs/46-1/Moroccan%20Gnawa.pdf
Neueste Kommentare