Konzert-Review – Behind the Green Door – Embryo live / 15.Mai 2020 in München
Als Historiker muss man mit dem Wort historisch sehr vorsichtig umgehen, wenn es um kulturelle Ereignisse geht. Es käme nämlich keinem Historiker in den Sinn, das Wort historisch in den Mund zu nehmen, wenn es lediglich um kulturelle Ereignisse geht. Zu politisch ist die Geschichtsschreibung, zu beschränkt im Blick gewesen. Welche Revolutionen Shakespeare mit seinem Theater Ende des 16. /Anfang des 17.Jahrhunderts hervorgebracht hat, wissen wir noch nicht einmal heute. Und gerade in Corona-Zeiten erleben wir gerade wieder, wie Kunst und Kultur als system-unrelevant eingestuft werden. Das Brot der Seele ist eben unsichtbar, und wir fühlen nur unmittelbar den Sturm der materiellen Sorgen.
Embryo ist das beste Sinnbild für Live-Konzerte und Kultur
Das Konzert von Embryo letzten Freitag war historisch. Es war historisch, weil die Band auch über 50 Jahre ohne Publikum, Erfolg und Ruhm funktioniert hat und im Geist zusammengeblieben ist. Die Band liebt einfach Musik. Das ist es. Und deswegen verleihe ich der Band informell hiermit den Adelstitel. Embryo ist zeitlos, nicht nur eine Institution in München, sondern eine große unbekannte Bekannte in der ganzen Welt. Was Kunst und Kultur jenseits des Mainstreams kann, was sie erschafft, wie glücklich sie die letzten Adern des Lebens macht, alles das verkörpert Embryo. Live auch ohne Publikum. Der Gig in der Musik- Konzertreihe „Behind the Green Door“, initiiert von Veit Oberrauch, ist und bleibt einzigartig, weil wir Zuhörer vor der Mattscheibe saßen und noch sitzen und nicht fassen können, wie eine Band eine solche Lust an Musik rüberbringen kann. Ich habe mir nun das Konzert mehrere Male angehört und daran gedacht, dass sich eigentlich nichts geändert hat zu Embryos Reisen 1978/1979. Embryo ist Embryo geblieben. Nur wir haben uns geändert, sind dialog digital geworden, schauen auf Einschaltquoten, schauen auf Klicks, um die Relevanz von Ereignissen beurteilen zu können. Statistik aber hat nichts mit Überzeugung zu tun. Und die Band Embryo ist ein Überzeugungstäter, wenn es um Musik geht. Ganz unkriminell.
The missed concert in Beelen and Münster
Ich saß bei der Ausstrahlung des Konzerts am Freitag neben meinem Freund Frank, und wir saßen wie gebannt da und konnten es kaum glauben, was da passierte. Es war ein Rausch der Gefühle, und es kamen in uns Gefühle von Festival-Stimmung hoch. Absurd, wenn man bedenkt, dass da kein Publikum war, kein Rauschen des Publikums, einfach die Band nackt. Die sagenhafte Lichtillumination durch Kreuzer Lichtmaschine gab den Musikern die richtige Kleidung und verlieh dem Ereignis das Prädikat herausragend. Musik und Ambiente waren ein Kontinuum.
Sebastian Wolfgruber hat Embryo-Schlagzeuger Jakob Thun, der sich kurz zuvor verletzt hat, mehr als gut ersetzt. Und anfängliche Befürchtungen, dass ein E-Gitarrist fehle, erwiesen sich als Fehlanzeige. Ich kann in fünfzig Jahren (da bin ich 97 Jahre) stolz behaupten, dass ich das erste Konzert von Embryo ohne Christian Burchard 2016 live in Pfaffenhofen gesehen habe. Mit den Mishra-Brüdern. Ich kann genauso stolz behaupten, dass ich an die dreißig Konzerte mit Christian Burchard, dem Mitgründer der Band, gesehen habe, die alle unvergesslich waren. Es werden in fünfzig Jahren nur wenige wissen wollen, aber diese Erinnerungen brauchen ebenso kein Publikum. Sie sind und bleiben Höhepunkte für mich. Und…für mich war der Bassist Maasl Maier der Held des Freitagabends, der wirklich den ganzen Sound trug, Sound vorbereitete, und alles zeigte, was er kann, eben unendlich viel. Dieses Event bleibt abrufbar, muss abrufbar bleiben.
Eigentlich hätte die Band zwei Tage nach der Ausstrahlung in Beelen und am nächsten Tag in Münster spielen sollen. Tausend Tränen gingen in mir angesichts dieses Konzerts schnell in eine Freude über, die nur eines in den Blick genommen hat. Sobald Embryo nach der Corona-Krise wieder analog auftritt, bin ich dabei. Ohne wenn und aber. Ob in Tutzingen oder anderswo. Jedes Konzert von ihnen ist ein Erlebnis. Und wahrscheinlich auch historisch, weil es für mich die kompletteste und beste Band ist, die Deutschland derzeit zu bieten hat. Danke Marja Burchard und danke an alle Mitmusiker. Papa Christian hat es gehört und ist ausgerastet!
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