Marja Burchard, Frau der Klänge und seit 1985 bei Embryo

Marja Burchard 2008 bei der Verleihung des Weltmusikpreises Ruth – Bildquelle: Embryo & Willy Rodvian

Marja spielt Marimba, Schlagzeug, Vibraphon, Klavier, Posaune und noch viele andere Instrumente. Sie hat der Band mit dem „Beatboxing“ ein ganz neues Stilelement hinzugefügt. Ich höre Marja erstmals auf dem Konzert in Münster 2015 live und bin von ihrer Spielfreude und ihrer Ausstrahlung begeistert. Auch bei den anschließenden Konzerten mit ihr fühle ich deutlich, dass Live-Musik ganz nah bei ihr, in ihr und mit ihr ist, und es ist diese Nähe, in die man einfach hineingezogen wird, diese Musik, die in diesen magischen Momenten eine eigene Welt darstellt. Ich frage Marja nach diesem Phänomen, und ihre Antwort ist verblüffend wie einfach:

Embryo 2015 in der Frauenstraße 24 in Münster mit Christian Burchard, Jens Pollheide, Valentin Altenberger, Lothar Stahl, Art Zen Wehmeyer und Marja Burchard / Bildquelle: Dirk Ruschepaul

„Eigentlicht ist das Musizieren gar nicht fürs Publikum gedacht, sondern war eine interne oder religiöse Geschichte. Es hat sich halt so entwickelt. Bühne-Publikum.“

Und dann holt sie weiter aus:

„Das hat auch viel bei der Musik verändert. Das Publikum ist mir meistens egal, es geht bei uns ja um die Musik und nicht um die Befriedigung des Publikums. Musik ist ja mehr als die Meinung von den Zuhörern. Der Weg, Musik zu machen, ist immer ohne Publikum, warum sollte dann der Moment, wenn man Musik macht, für das Publikum sein? Die Musiker, die Musik aus Anerkennungsgründen machen, verstehe ich nicht. Ich mache Musik, weil es mich glücklich macht, mir und uns beim Überleben hilft. Ursprünglich war das Musizieren eine Sache die wirklich für sich selbst stand. Es brachte Freude, Glück oder wurde im religiösen Kontext betrieben. Das Publikum war nicht im Zentrum des Musizierens. Manchmal gab es Publikum, manchmal nicht. Das veränderte die Musik an sich nicht so. Ich habe das Gefühl, dass die Musik durch die Bühne und das Publikum stark verändert wurde und werden kann. Das kann im Positiven wie im Negativen passieren. Im Negativen beobachtete ich häufig: dass es Musikern immer wichtiger wurde, wie sie „rüberkommen“, dass sie „berühmt“ werden. Das Ego stellte sich vor die Musik und das machte mich traurig. Mit 20 begann ich Musiker zu fragen, ob sie Musik machen, um Mädls zu bekommen oder einfach nur der Musik wegen. Da antworteten sie mir meistens, um Mädls oder Jungs zu bekommen, weil sie cool ausschauen wollen oder weil ihnen halt nichts Besseres lag…Ich verstand das nicht, aber auch vielleicht deswegen, weil Embryo nie so eine Band war, die versucht hat, gut rüberzukommen, sondern sich eben auf die Musik konzentriert hat. Positiv gesehen kann einem das Publikum auch musikalisch enorm bereichern. Auch Menschen, die keine Ahnung von Musik haben, können ein super Feedback geben. In der Musik gibt es ja viele Aspekte, die auch von einem Laien wunderbar empfunden werden können.“

Marja Burchard als Kind auf der Rutsche / Bildquelle Embryo

Ja, denke ich, das stimmt irgendwie mit dem Publikum und ihren Einfluss auf die Musik. Das ist eine fette Botschaft, die bei jeder Live-Performance mit ihr auch zu spüren ist. Das ist authentisch, was sie sagt. Aber ist das Publikum dann egal? Ich bin ja auch irgendwie Publikum. Wenn wir jenseits der Bühne alle egal sind, dann ist auch Embryo auf der Bühne irgendwie egal, oder? Embryo ist mir aber nicht egal, auch nie egal gewesen, wenngleich ich die Band auch mal über mehrere Jahre leider aus den Ohren verloren habe. Es arbeitet jetzt in mir. So ganz will ich es nicht kapieren, bohre deshalb noch einmal nach. Da sagt sie:

„Natürlich ist es schön, wenn wir spüren, dass das Publikum aufmerksam zuhört. Dann entsteht ja auch ein Austausch; dann experimentieren wir mit Situationen und beziehen eventuell indirekt auch das Publikum mit ein. Manchmal auch für das Publikum und uns: das Neue, Unbekannte, Befremdliche… Wie reagieren wir gemeinsam darauf? Es freut mich auch, wenn mir Leute sagen, die Musik, die wir machen, macht sie glücklich… etc.“

Embryo live in Beelen 2018 – Nachwuchssorgen braucht sich die Band nicht zu machen / Bildquelle: Elisabeth Wiengarten

Jetzt bin ich zufriedener, um doch gleich mit einer anderen Perspektive wieder aufs Neue überrascht zu werden:

„Viel wichtiger sind mir die Musiker, mit denen ich spiele, dass man sich nicht verletzt, versucht, sich nicht zu überhören etc. Locko Richter inspirierte mich 2007, als er sagte, er stünde mit dem Rücken zum Publikum, da er Publikum nicht mag. Als ich ihn fragte, ob er sich nicht auch manchmal Bands ansehen würde, – er ja in dem Moment auch Publikum sei, sagte er mir, er ginge nicht auf Konzerte, und wenn ihn eine Band interessieren würde, dann würde er nur zum Soundcheck kommen, um einen Eindruck von der Band zu bekommen. Miles Davis stand auch mit dem Rücken zum Publikum. Ein berühmter Jazzpianist spielte in New York in einem Lokal – die Leute unterhalten sich super laut- dann stand er von seinem Klavier auf und küsste die Wand.“

Eine tolle Geschichte, die Marja erwähnt. „Küss die Wand, gnäd’ge Frau.“ Sie zeigt, wie asymmetrisch Konzerte zwischen Künstlern und Publikum verlaufen können. Wer wie Marja mit einem eigenen Statement auf die Bühne kommt, ist vor solchen Überraschungen gefeit. Ich habe anschließend natürlich versucht, den Namen des Jazzpianisten ausfindig zu machen. Leider erfolglos. Aber eines kann man festhalten: Wenn das Publikum nicht bereit ist, sich in die Tiefen der Live-Musik zu bewegen, ist das Publikum auch wirklich egal. Die gegenseitige Zündung ist enorm wichtig. Und die ist häufig auch eine Sache des Ortes. Die kanadische Jazzpianistin Diana Krall antwortet auf die Frage, ob sie noch einmal an einem Ort auftrete, wo gegessen wird, so: „Nein. Ich mag es nicht, wenn es zu viel Geräusche von Tellern und Besteck gibt. Und dann passiert es ja immer mitten in einer Ballade, dass jemand den Mixer anschmeißt und ruft, ‚wer hat die Margarita bestellt?‘ Es will ja auch niemand im Village Vanguard in New York hören, wie zwischendurch jemand die Maschine für den Frozen Daiquiri anwirft. Ich kenne Jazz-Musiker, die in so einem Moment aufhören würden zu spielen. Aber ich mag Clubs, sozusagen die Goldene Mitte, es gibt eine Bar, die Leute haben einen Cocktail – da mag ich den Vibe, mehr als in einer Konzerthalle, wo alle still sitzen.“ http://www.planet-interview.de/interviews/diana-krall/48007/

Marja bestätigt, dass jedes Konzert anders sei und auch mit dem Ort zusammenhänge. Und sie ergänzt:

„Wenn ich sage, das Publikum sei zweitrangig, an erster Stelle stehen die Musiker, meine ich damit die Wichtigkeit des Zusammenhaltes untereinander. Wir sind zusammen auf Tour, wir müssen zusammenhalten, da sonst die ganze Musik, das ganze Miteinander zusammenfällt und dann nützt einem das Publikum auch nichts mehr. Nur wenn man zusammen fuktioniert, kann das Publikum genießen. Wobei natürlich auch die Unebenheiten des Miteinanders schön sein können und auch musikalisch genossen werden können, solange es nicht komplett zerfällt oder sich gegenseitig zerstört. Es gibt auf Tour mit Embryo auch oft grenzwertige Situationen. Ich vergesse nie, wie einmal 2008 oder 2009 nach dem Konzert eine Frau auf uns zukam und uns anschrie, was für eine „schlechte Musik“ wir machen würden, und dass sie Geburtstag hätte, und ihr Abend versaut sei wegen unserer schlechten Musik… Ein anderes Mal kam eine auf mich zu und sagte, ich würde doch nur kopieren und sei gar nicht ich selbst usw…. Nach dem Konzert bin ich (damals noch viel mehr) immer sehr durchlässig, was Emotionen anderer angeht. Ich habe das Gefühl, alles gegeben zu haben, und wenn solche Kommentare kommen, verletzt das ungemein. Nicht umsonst gibt es ein Backstage, wo man sich zurückziehen kann, um wieder runterzukommen. Danach kann man mit solchen Meinungen besser umgehen. Auf der anderen Seite ist es auch gut, solche Kommentare mitzubekommen, da man dadurch sich selbst besser kennenlernt und dazu gezwungen wird, sein Inneres zu reflektieren. Eben auch: Mach ich das, weil ich damit glücklich bin, dazu stehe, oder mache ich das auf Grund des Publikums, der „Anderen“, oder einfach nur, weil es sich „halt so ergeben hat“. Inzwischen und vielleicht auch Dank dieser Situationen weiß ich: Ich will dafür kämpfen, dass es weiter geht mit Embryo. Für mich ist es nicht nur musikalisch wichtig, auch politisch. Und es ist unglaublich schön zu sehen, wie viele Menschen durch die Musik schon glücklich gemacht wurden… Also Musik nicht nur im unterhaltenden Sinne, sondern auch im medizinisch, psychisch oder physisch heilendem Sinne. So wie bei der Gnawa Musik.“

Embryo mit Gnawa-Musikern / Bildquelle: Embryo

Was anderswo noch Medizin ist, in Afrika, in Asien, in Südamerika, hat nicht viel mit dem Wissen in unserem westlichen Sinne zu tun, sondern mit Erfahrung und mit Glauben. Und es gibt bis heute keine Statistik darüber, wie viele Menschen durch Erfahrung und Glauben geheilt wurden, aber es müssen ganz viele gewesen sein, denn die Wissenschaft an sich gibt es ja in katalogisierter Form noch nicht so lange, und die Menschheit hat auch vorher überlebt. Je mehr wir aber aus Katalogen wissen, egal, welcher Fachbereich, desto mehr verlieren wir den Blick für die scheinbar randständigen Phänomene, für die Sonderbarkeiten, für die Absonderlichkeiten eines Körpers oder einer Sache. Wir gehen immer von Normbereichen aus, von Normwerten, von Normmaßstäben, aber wir verlieren damit den Blick für das strukturierte Ganze, denn zum Ganzen gehört immer ein Rand…wie anders kann man sich sonst etwas Ganzes mit Struktur vorstellen…?

Musik ist aber etwas, das wie ein Kaffee, der ständig in der Tasse überschwappt, funktioniert. Literatur auch. Kunst allgemein. Deswegen glaube ich mehr an die Kunst als an die Wissenschaft. Kataloge bleiben wichtig. Aber, um den Zauber von Musik zu spüren, müssen wir immer wieder die Bilder ausradieren, die wir mit Bleistift dünn und dick im Kopf gezeichnet haben. Und wenn man das begreift, begreift man auch, dass man im Leben immer am Anfang steht wie ein Embryo. Unser Leben besteht dann aus ständigen Gehversuchen. Wenn wir uns alle darüber bewusst werden, haben wir zumindest einen gleichen Anfang. Und das allein ist ein Zauber im Leben und eben Medizin. Und genau das macht für mich die Musik von Embryo aus, ihren einzigartigen Zauber. Ja, denke ich, Marja hat wirklich das Herz der Band übernommen, aber ohne den Vater auch einen neuen Sound kreiiert, den ich noch nicht in Sprache fassen kann. Viellleicht muss ich das auch gar nicht, vielleicht muss man nicht alles in Sprache fassen, Musik nicht, und Embryo schon gar nicht, aber was tue ich dann die ganze Zeit hier, wenn ich mich so intensiv mit der Band beschäftige und es niederschreiben will? Vielleicht sind es die Bläser?, frage ich Marja schließlich.

„Das kann ich nicht beantworten, da ich da zu tief drinnen stecke- das musst du jemand anderen fragen. Bläser gab s schon immer sehr viele bei Embryo. Wolfi ist auch schon seit 2000 dabei.“

Embryo auf kleinstem Raum im Bus 1989 – Der enge Beieinandersein ist auf Touren ist sehr intensiv / Bildquelle: Embryo

Stimmt. Autsch. Blöde Frage. Habe ich doch selbst Anfang der Neunziger bis in die 2000er ganz häufig erlebt. Ich gebe es auf, zu ergründen, was am Sound von Embryo mit Marja neu ist, aber ich behaupte steif und fest: Es ist etwas neu, aber lassen wir das, denke ich. Ich suche weiter nach Antworten: Wie schwer ist es, eine Tour zu organisieren? Mittlerweile sind nach ihrer London-Tour 2017 ein paar Monate vergangen.

„Es ist harte Arbeit, ne große Tour zu organisieren, aber es lohnt sich. Und es ist extrem, wochenlang mit der Band auf kleinstem Raum im Bus die ganze Zeit zusammen zu sein, sehr intensiv. Das ist sehr persönlich, aber so war es bei Embryo ja irgendwie auch schon immer, und ich würde am liebsten nur touren!!!!!! (Ihre Stimme hebt begeistert an) Das ist das Beste auf der Welt und inspiriert die Musik so sehr! Aber ich bin an zu Hause gebunden wegen meiner Eltern.“

Eines der letzten Konzerte mit Christian Burchard in Andalusien 2016 – Bildquelle: Embryo

Es ist bei diesen Worten Marjas nun Dezember 2017, und ich denke an Marjas Vater Christian, mit dem ich dann mein letztes Telefonat führe. Wir reden über die beiden Embryo-Auftritte mit den Mishra-Brüdern. Das eine in Pfaffenhofen 2016 hatte ich live gesehen, das 2017 in München nicht. Das Konzert in Pfaffenhofen 2016 war für mich das erste Embryo-Konzert ohne ihn. Als ich es Christian am Telefon sage, antwortet er gleich, dass das Konzert in München 2017 aber noch besser gewesen sei. Er hat von beiden Konzerten die Tonaufnahmen gehört, in München 2017 war er dabei. Ich muss schmunzeln. Natürlich war es besser. Warum? Weil er live dabei war. So empfinde ich es ja auch immer mit der Band. Es ist die einfache Wahrheit: Ich habe die besten Konzerte der Band erlebt!

Marja erzählt mir später noch, dass ihr Vater trotz seines angeschlagenen Zustands noch unbedingt auf dieses Konzert in München wollte. Beim Konzert 2017 mit den Mishra-Brüdern im Kösk in München haben sie Christian neben die Bühne gelegt, und er hat das gesamte Konzert mitbekommen. Am Anfang wollte er mitspielen, und dann hat er es genossen, zuzuhören. Jakob Thun, Eva Burchard und ihre Schwester Sliwka haben ihn abwechselnd gestützt und am Ende vom Konzert ist er ans Rhodes gegangen und hat ein bisschen mit dem Tabla-Spieler Prashant gejammt. „Viele, die das erlebt haben, haben sich bei mir bedankt, wie schön es war, dass Papa unter uns war, und es hätte sie an andere Länder erinnert, wo es öfter so Situationen gibt, in Deutschland so etwas jedoch immer seltener mitbekommt.“ Ich frage Marja weiter aus, frage sie nach Mal Waldron, der ihr das Klavierspielen beigebracht hat, frage sie danach, wie man in der Embryo-Familie aufwächst. Ich meine, das sind Fragen, die vielleicht nicht sehr originell sind, aber doch immer interessant bleiben. Mich interessiert einfach, wie Menschen mit einer musischen Hochbegabung aufwachsen, wie Künstler ihr Umfeld erleben, was sie prägt, wie sie die Kindheit erlebt haben. Auch hier sollte ich Antworten erhalten, die mich noch lange beschäftigen.

Eva Burchard, Mal Waldron und Marja Burchard – Von Waldron hatte Marja viele Poster im Zimmer / Bildquelle: Embryo

„Für mich das normalste der Welt. Als Kind wertet man nicht, man spürt und empfängt, akzeptiert oder rebelliert. Meine Kindheit: ein enormer Reichtum an Eindrücken- das Kennenlernen von indischen, nigerianischen, japanischen, chinesischen, marokkanischen…etc. Musikern und viele verschiedene Menschen, bunte Orte… aber nicht immer kinderfreundlich. Dank meiner Mutter wurde ich immer sehr behütet behandelt! Ich mochte die Musik von Mal Waldron und hatte viele Poster von Mal Waldron in meinem Zimmer aufgehangen. Als er einmal zu mir ins Zimmer kam und die ganzen Poster sah, fiel er vor mir auf die Knie und himmelte mich an. Er hatte immer einen Scherz auf Lager und erzählte ständig Witze. Er brachte mir das Klavierspielen nicht im klassischen Sinne bei, ich hörte ihm zu, wie er spielte und lernte durch das Zuhören, Zusehen… Ich lernte ihn kennen und verstand sein Spielen. Ein paarmal improvisierten wir vierhändig auf dem Klavier, das in meinem Zimmer stand. Als ich 14 oder 15 war, sah und hörte ich ihn das letzte Mal live. Sein Spielen berührte mich so sehr, dass ich weinte.“

Da ist ein Erfahrungsschatz aus frühester Kindheit gewachsen, ein Erfahrungsschatz, den nur die wenigsten Kinder erleben dürfen. Vielleicht noch die Kinder von Diplomaten im Ausland, die alle vier Jahre das Land wechseln. Jetzt will ich noch mehr wissen, frage nach dem Schulleben, und, ob man sie auf das Leben des Vaters angesprochen habe.

„Bis zur 6.Klasse spielte das keine Rolle. Ab der 7. Klasse hielt ich es geheim. Doch da fanden die Klassenkameraden heraus, wer mein Vater war, und ich wurde sehr stark gehänselt. Sie kamen auf Konzerte, zerbrachen Bierflaschen und lachten mich am nächsten Tag aus, was für hässliche und verplante Menschen dort verplante Musik spielen würden. Sie druckten Bilder von Musikern von Embryo aus, hängten sie in der Aula auf und beschmierten sie mit Rotze und anderem Müll.“

Embryo mit Didac Ruiz (Zweiter von rechts) 2018 in Griechenland / Bildquelle: Embryo

Ich bin geschockt. Es ist schlimm, was Marja in der Schule erleben musste. Das macht nachdenklich, zumal die Situation heute noch schlimmer geworden ist, weil Äußerlichkeiten in der Schule eine immer größere Rolle spielen. Jede Abweichung von Standardvorstellungen kann zum Spießrutenlauf werden. Mobbing ist für viele leider zum grausamen Alltag geworden. Gegen diesen schäbigen Kleingeist hilft nur ein familiäres, weltoffenes Milieu, das bei den Burchards von Beginn an vorherrscht. Marjas Prägungen lassen sich auch gut am Beispiel des katalanischen Percussionisten Didac Ruiz zeigen. Didac Ruiz spielt 1999 als 17-jähriger in Barcelona ein Konzert mit Embryo. Christian Burchard lobt ihn. Die Band ist auf dem Weg nach Marokko. Didac möchte gleich mitfahren, aber das geht leider nicht. Christian schlägt ihm daher vor, doch ein paar Konzerte für die Band auf der Rückreise zu organisieren. Das tut er. Ein Jahr später im Jahr 2000 klingelt Didac Ruiz bei den Burchards in München an. Marja öffnet die Tür und fragt lächelnd, wer er sei. Da stellt er sich vor und sagt, dass er Christian und die Band Embryo suche. Auf der Balkan- und Istanbul-Tour 2018 von Embryo stößt Didac in Budapest zur Band hinzu. Er kommt gerade aus Mali, wo er mit Gnawa-Musikern Aufnahmen eingespielt hat. Ich will nicht allzu religiös klingen, aber: Ist diese tolle Geschichte nicht eine wundervolle Offenbarung?

Im Mai 2018 ergänze noch einmal meine Fragen, weil ich den Eindruck gewonnen habe, das alles doch noch unfertig ist. Halt eben Embryo live…am Schreibtisch…Embryo hat ja immer ungerade Rhythmen geliebt, etwas, was vielen Hörern zunächst schwer ins Ohr geht. Das beschäftigt mich, auch, weil ich selbst lange gebraucht habe, um das zu fühlen und mit Bildern untermalen zu können. Was muss man also mitbringen, um sich hineinzufinden in den Sound?

„Offenheit (Interesse) und Ruhe. Hier hat mich mein Vater ganz sicher beeinflusst. Seine Eigensinnigkeit und die Art und Weise seiner Gedankengänge. Er war der Motor, und es braucht ja immer einen Motor in einer Band.“

Ich ergänze: „Jetzt bist du der Motor, Marja, und es ist im Spiel sehr deutlich vernehmbar, wer, wann die Grundrhythmen vorgibt. Fällt es dir schwer, diese Rolle anzunehmen oder sagst du auch mal –lass die anderen mal spielen, wenn sie einen Groove haben? Und wie suchst du die Musiker aus. Ich meine, dein Vater Christian hat das über Jahrzehnte immer super hinbekommen, aber du scheinst das schon nach zwei Jahren hinzubekommen. Was ist dir wichtig?“

„Nein, es fällt mir nicht schwer. Ja, ich will auch die anderen anfangen lassen. Das verstärkt sich mit dem Vertrauen zu den Musikern. Bei alten Embryonern habe ich das sehr stark. Christian und ich sind verschieden. Wir suchen verschieden aus, und doch haben wir uns gegenseitig auch beeinflusst, wen wir gut finden. Die Offenheit und das Interesse der Musiker sind das wichtigste.“

Ethnologie spielt in der Musik Embryos eine große Rolle. Ich finde, das ist der wichtigste Punkt und in dieser Konsequenz auch Alleinstellungsmerkmal der Band. Deswegen interessiert mich natürlich Marjas Interesse an der Musik anderer Kulturen. Aber auch, ob es in naher Zukunft mal wieder eine längere Reise gibt.

Marja und Mutter Eva in Tanger – Bildquelle: Embryo

„Mich interessiert an der Musik anderer Kulturen alles. Der Rhythmus, das „Feeling“, die Skalen, die Sichtweise, die Unterschiede, die Ähnlichkeiten… Leider ist es manchmal sooo unterschiedlich, und man muss sich sehr lange damit beschäftigen, um etwas Gutes, Gemeinsames zu schaffen. So dass es kein Nachhinken an der jeweiligen Musik wird, sondernein ein Miteinander! Das ist das wichtigste! Deswegen ist es so wichtig, möglichst viel miteinander zu spielen und zu reisen! Am liebsten wäre ich nur auf Tour. 2019 wollen wir in den Iran über Georgien usw…Inshallah…Ich will auch ganz bald wieder nach Marokko! Die jungen Embryonen müssen das unbedingt erleben!“

Bei diesen Antworten von Marja habe ich nun vorläufig keine Fragen mehr und bin sicher, dass der Spirit Embryos in den nächsten Jahrzehnten durch sie weitergetragen wird, ohne dass die musikalische Weiterentwicklung zu kurz kommt.

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