Musikethnologen unterwegs
Immer wieder beschreiben die Musiker von Embryo die Eindrücke bei ihren Reisen. Nicht immer sind die genauen Quellen, die mitunter verstreut im Internet zu finden sind, bekannt, aber den folgenden Duktus in der Schilderung würde ich Christian Burchard zuordnen. Es heißt zum Jahr 1981:
„Im April, Mai und Juni dieses Jahres waren wir auf Tour durch Italien, Spanien und Marokko. Vor ein paar Jahren gab es in Italien noch jede Menge gute unabhängige, freie Radiostationen. Jetzt, so erfuhren wir, haben die meisten freien entweder aufhören müssen oder sind in Partei-oder Kommerzsender umfunktioniert wurden – eine Entwicklung, die wir nicht erwartet hatten, denn von den Free Radios hatten wir uns viel versprochen. In Marokko passierte uns dann etwas völlig absurdes. Es hatte sich anscheinend herumgesprochen, daß unsere Musik einen gewissen Bekanntheitsgrad bei den Jüngeren hat. Die Konzerte wurden u.a. vom marokkanischen Ministerium für Sport mitveranstaltet, und Auftrittsorte waren die größten Sporthallen und Stadien in Großstädten wie Tanger, Rabat, Casablanca. Regelmäßig waren vor unserer Bühne irgendwelche Ehrentribünen aufgebaut. auf denen die marokkanischen Obermafiosis saßen und sich Embryomusik reinzogen. Vielleicht dachten diese, was bei ihren jungen Untertanen ankommt, das müßten sie durch ihre Anwesenheit auf ihr Konto verbuchen können. Die normalen Marokkaner, für die wir eigentlich spielten, mußten in weitem Abstand hinter Sperrgittern stehen, die von Polizei und Militär bewacht wurden.
Beim zweiten Auftritt in Tanger auf einem Marktplatz in der Innenstadt blieb allerdings die Ehrentribüne leer, denn die Ehrengaste waren lieber beim Empfang auf einem Kriegsschiff, als sich noch ein zweites Mal unsere Musik anzuhören, die Sperrgitter für die einfachen Marokkaner blieben aber stehen. Als wir den 5-6 Tausend, die gekommen waren, über Mikrofon erklärten, sie könnten ruhig näherkommen, besetzten diese blitzschnell die Ehrentribüne und schoben die Sperrgitter beiseite. Die etwa 200 Polizisten werden dieses Konzert nicht mehr so schnell vergessen, denn ihre Gummiknüppel halfen ihnen auch nichts mehr gegen so viele. Leider war das aber nicht immer so möglich, denn nachdem zwei aus unserer Gruppe schon mal marokkanische Gefängnisse von innen gesehen hatten wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt‘, mußten wir uns etwas zurückhalten. Es war immer so eine Art Versteckspiel und die vielen Kompromisse, die wir dabei eingehen mußten, haben uns richtig verzweifeln lassen. Indem wir woanders Musik machen, werden wir in Zusammenhang gebracht mit der Umgebung, aus der wir kommen. Wie oft hörten wir von den Einheimischen: Deutsch… oh, wundervoll! Mercedes, Hitler, Autobahn… Von den offiziellen Stellen aus wird immer wieder vermittelt, wie wunderbar alles ist, was aus dem Westen kommt, und überall sahen wir die Fernseher mit den letzten amerikanischen Plastikfilmen… Internationaler Stumpfsinn!“[1]
Diese beeindruckende Schilderung zeigt, dass Deutschland auch in der arabischen und nordafrikanischen Welt noch immer schnell mit Hitler verbunden wird. Das gilt heute wie damals. Al-Nakba (die Katastrophe) ist das arabische Wort, das aus palästinensischer und arabischer Sicht im Zusammenhang mit der Staatsgründung Israels und der unrechtmäßig empfundenen Enteignung von Millionen Palästinensern 1948 als Schlagwort gerne bemüht wird. Studienkollegen aus Münster berichten mir nach ihrer Syrienreise 1998, dass es mühelos möglich gewesen sei, in Damaskus auf dem Suk Hitlers „Mein Kampf“ zu erwerben. Die antisemitische Haltung, die bis weit in die Eliten arabischer Gesellschaften geteilt wird, reduziert und entstellt den Blickwinkel europäischer und deutscher Geschichte.
Die jahrhundertelange Erfahrung der Unterdrückung im Osmanischen Reich, der Kolonialismus und Imperialismus und die bedrückende politische Gegenwart haben zu einem merkwürdigen, bewundernden Aufschauen geführt. Der barbarische Massenmörder Hitler wird mit dieser Perspektive zu einem machtvollen und gerechten Widerstandskämpfer, der die Schmach des Versailler Vertrags und die damit verbundene Unterdrückung der Deutschen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg nicht hinnehmen wollte und zugleich gegen das „Urübel“, das Judentum, aktiv Widerstand leistete. Die barbarische Entmenschlichung, der enge realpolitische Zusammenhang zwischen Judenprogromen, Auschwitz und der Gründung Israels 1948 als Folge wird in der arabischen Welt kaum gesehen, auch nicht, dass neben Millionen Juden viele andere Minderheiten wie Sinti und Roma durch die Schreckensdiktatur Hitlers getötet wurden. Minderheiten wie die Beduinen, die vielfach in den arabischen Ländern diskriminiert und entrechtet werden, sehen diesen Teil nicht oder blenden ihn aus. Gegenwart wird so zur Manipulation der Geschichte. Viele islamische Terrororganisationen verfolgen heute den panarabischen Gedanken, wonach die Einheit der arabischen Sprache, Kultur und des Rechts ein erstrebenswerter und mit allen Mitteln zu erreichender Zustand ist. Gamal Abdel Nasser, der von 1954 bis 1970 ägyptischer Staatspräsident und ein glühender Verfechter der panarabischen Idee war, wird bis heute in weiten Teilen der arabischen Welt als Held verehrt.
Embryo spielt auf einer anderen Klaviatur. Ohne jede Verblendung und Voreingenommenheit zählt zunächst die musikalische Begegnung mit anderen Kulturen. Die Band war und ist bei ihren Reisen jenseits der Realpolitik immer an der Zusammenkunft mit Musikern interessiert, die traditionelle Instrumente ihres Landes spielen. Das ist ein einzigartiges Statement. Die ursprüngliche Freude, die bei der Begegnung mit Musikern aus aller Welt hörbar wird und im Kultfilm „Vagabunden Karawane: A musical trip through Iran, Afghanistan and India in 1979“ von Werner Penzel dokumentarisch festgehalten wurde, hat der 2014 verstorbene Schauspieler Dietmar Schönherr in einem am 12. Januar 1981 an das ZDF verfassten Brief so beschrieben: „Der Bericht von Eurer musikalischen Reise war etwas vom Schönsten, was seit langer Zeit auf deutschen Fernseh-Schirmen zu sehen war. Technisch meisterhaft, wunderbare ästhetische Bilder, musikalisch eine Sensation. Das Konzert mit den Afghani’s in Kabul, wo wir selber vor ein paar Jahren waren, ist mir unvergesslich, diese Freude, die da bei den Gastgebern ausbrach, war so berührend, so spontan, dass man das Gefühl bekam, dabei zu sein, und dass man sich selber dieser ansteckenden Begeisterung nicht entziehen konnte.“
Der Film „Vagabunden Karawane: A musical trip through Iran, Afghanistan and India in 1979“ von Werner Penzel hat die Asienreise Embryos 1978/1979 in der Tat eindrucksvoll wiedergegeben. Im Intro des Films heißt es: „Wir haben auf unserer Reise die meisten Sprachen nicht verstanden. Aber die Musik hat uns geholfen, etwas mehr von dem Fremden zu begreifen. Hier, auf unseren Breitengraden, beschränken wir uns zu sehr auf das, was wir so vorgesetzt bekommen. Wir sind einer ständigen, zumeist anglo-amerikanischen Gehirnwäsche ausgesetzt, die sich – ob wir wollen oder nicht – bis in unsere Träume hineinfrisst.“ Diese Worte beschreiben noch heute sehr gut das westliche Denken, das leider auch zur Quelle vieler internationaler Konflikte geworden ist. Immer unterwegs sein und ohne Vorbehalte hautnah erleben, was in den asiatischen und arabischen Ländern geschieht, gehört daher immer zur maßgeblichen Philosophie der Band.
Im Netz gibt es einen kurzen Videoausschnitt von der Marokkotour 2008. (Ich finde ihn derzeit leider nicht wieder.) Man hört, wie Christian seinen arabischen Freunden die Aussprache des Buchstaben „r“ versucht beizubringen, damit sie den Bandnamen Embryo aussprechen können. Man sieht, wie Marja Burchard in einem Haus mit marokkanischen Musikern eine spontane Session abhält. Später begleitet man Christian im Embryomobil auf der Straße durch Marokko und spürt, wie sehr das „Unterwegs sein“ Embryos Musikphilosophie ausmacht. Die Einflüsse der Beat-Generation, allem voran Jack Kerouacs Meisterwerk „On the road“, spielen eine große Rolle für den Geist ihrer Musik. „Musik und Kompositionen entstehen auf der Straße“, fühlt auch Tochter Marja heute noch. Wenn man heute hier ist, morgen dort, ist man irgendwann überall.
Nicht Sklave von Zeit und Ort zu sein, bedeutet das größte Maß der Selbstbestimmung. Viele Menschen träumen von diesen Weltreisen, bereisen dann aber Orte, die man einfach gesehen haben muss. Wer gesagt hat, dass man sie gesehen haben muss, wird dabei selten hinterfragt. Es ist meist nur die Oberfläche. Tiefer in andere Kulturen eindringen, bedeutet auch, unbekannte Wege weiterzugehen. So läuft das bei Embryo, die ihre Musik immer abseits der Hauptstraßen findet. Zu tief ist das Misstrauen gegenüber der geschönten Realität von Tourismuszentren, zu neugierig ist man auf Geschichten in Ländern, die einen ungetrübten Blick ermöglichen. Die Band kennt folgerichtig auch keine Hierarchie und akzeptiert sie auch nicht für das Publikum. Ehrentribünen für ausgewählte Besucher ihrer Konzerte sind daher fehl am Platz.
Wenn die Musikethnologen unterwegs sind, dann ohne Grenzen
im Kopf. Bei ihren Reisen treffen sie auf Stämme und Kulturen, die einen
nachhaltigen Einfluss auf ihre eigene musikalische Entwicklung haben.
[1] http://www.forum.marokko.net/ubbthreads.php?ubb=showflat&Number=43570
Neueste Kommentare