Von Bagdad nach Andalusien – Wie Oud und Zahnpasta nach Europa kamen

Ein Mann erreicht das Festland, schüttelt sich den nordafrikanischen Wüstenstaub ab, der sich in alle Textilritzen seines Gewandes verloren hat. Der frische Wind hilft ihm und seinen wenigen Begleitern dabei, und sie starren für einen Moment in die Sonne, als sei es eine andere als jene dahinten, die sich noch vor Tagen auf ihre Rücken eingraviert hatte. Als sie Bagdad verlassen haben, über Land und Meer ans andere Ende gelangen, ruft der Mann: „Inshallah.“ Und er bittet Gott darum, dass ihn die Krankheit des Neids nicht weiterverfolge. Bei seinem Lehrmeister Ishaq al-Mawsili in Bagdad ist er in Ungnade gefallen, nach einer Aufführung am Hofe Harun al-Rashids, die den Kalifen zum Weinen gebracht hat. „Gehe in Gottes Namen, aber lass dich in dieser Stadt nie wieder blicken!“, hat sein Lehrer ihm daraufhin befohlen.

Musik liegt auf dem Weg – So kam auch die Oud im 9.Jahrhundert nach Europa – Bildquelle: Embryo

Der dunkelhäutige Mann protestiert nicht. Sein Lehrmeister wird immer sein Lehrmeister bleiben, aber Schmerz und Enttäuschung begleiten ihn. Er sieht, wie viele Freunde plötzlich von ihm abrücken, wie wenige ihn auf seiner Flucht nach Syrien begleiten. In Syrien hört er von Geschichten aus dem fernen Andalusien, wo Ungläubige und Gläubige Seite an Seite in aller Öffentlichkeit ihre Kunst vortragen, in einen Wettbewerb treten, der die Freude an der Kunst betont, nicht die vermeintliche Überlegenheit des Einzelnen. „Ich muss dahin, wo die Sonne gerade hingewandert ist. Wo kein Neid ist. Wo Juden, Christen und Muslime friedlich miteinander leben und allein Kunst und Kultur zählen. Ich muss dahin, was immer mich auch dort erwartet.“ Der Mann bettet vorsichtig seine Oud im Gepäck, diese arabische Laute, die nur wenige so spielen können wie er, und setzt zur Reise nach Tunesien an, um von dort nach Andalusien überzusetzen. In Tunesien aber verbringt dieser Mann eine Weile am Hofe von Ziyadat Allah I. Auch am Hofe von Ziyadat Allah I. kommt es bald zum Streit, und glücklicherweise erhält der Flüchtling aus Bagdad 821 n. Chr. eine Einladung des ummayadischen Prinzen Al-Hakam I., nach Cordoba zu kommen. Hier ist Uwrubba oder Europa. Und Europa erhält in diesem Augenblick mit diesem Mann ein neues Gesicht.


Ziryāb (die Amsel) beim Musizieren – Bildquelle:https://unmundodeluz.wordpress.com/2016/05/02/la-musica-de-al-andalus/

Die Rede ist von Abu l-Hasan ‚Ali Ibn Nafi‘, auch Ziryāb (die Amsel) genannt, und was ihn 822 n. Chr. in Andalusien erwartet, schockiert ihn zunächst, kommt er doch aus der mesopotamischen Hochkultur. Die Menschen in Südspanien riechen unangenehm, wechseln zu den unterschiedlichen Jahreszeiten nicht einmal die Kleidung, essen beim Mahl alles gleichzeitig und nutzen auch für die Mundhygiene keine Paste. Es ist Ziryāb, der der andalusischen Hofkultur Zahnpasta und Parfum nahebringt. Es ist Ziryāb, der ihnen beim Menü die Aufteilung in unterschiedliche Gänge nahebringt, zunächst eine Suppe, dann Fisch oder Fleisch, dann Dessert. Es ist Ziryāb, der im 9. Jahrhundert die arabische Kurzhalslaute Oud und ihren Klang nach Europa bringt. Es ist Christian Burchard von der Band Embryo, der mir diese Geschichte erzählt, als wir uns zufällig 1994 in einem Stadtcafé in Warendorf begegnen.

Stell dir als Rolling Stones-Fan vor, du triffst Mick Jagger zufällig in einem kleinen Kaff beim Brötchenholen, und dann plauderst du mit ihm über Stunden an einem Tisch…stell dir als Pink Floyd-Fan vor, du triffst David Gilmour in einer überkommenen, unbedeutenden Dorfkneipe in einem noch unbedeutenderen Ort beim Biertrinken, und dann plauderst du mit ihm völlig unbefangen über Musik und Politik…stell dir als Schlager-Fan vor (die soll es ja gerüchteweise geben), du triffst Helene Fischer im verfransten Jogginganzug in irgendeinem Wald, und dann wird aus dem Waldlauf ein mehrstündiger Spaziergang zu zweit, wo sie dir ihre persönliche Geschichte ohne Make-Up erzählt…, ja, genau das bringt dich als Fan fast schon um den Verstand. So ähnlich ist es mir damals jedenfalls mit Christian ergangen, und ich sehe heute noch die Bilder der Situation vor Augen.

Christian Burchard in den 60ern – Bildquelle: Embryo

Mein Held, der meiner Freundin und mir am 1. Mai 1994 in einer schwarzen Lederjacke und halblangen Haaren begegnet, steht an der Theke des Cafés und möchte Brötchen holen. Wir sitzen hinten bereits mit Tablett am Tisch. Ich sehe ihn, springe auf und rufe quer durch den Raum. „Hey, Christian, was machst du denn hier?“ „Hi. Ja, ich wollte Brötchen holen.“ „Ja, dann komm rüber, setz dich doch zu uns.“ „Okay, Christian.“ Er nimmt die Tüte von der Theke, kommt rüber und setzt sich. Ich bestelle einen großen Kaffee und frage mich, wieso er noch meinen Namen kennt. Vor zwei Jahren war er in meinem Heimatdorf Beelen mit Embryo aufgetreten, aber danach muss er auch noch viele Leute und Namen kennengelernt haben, sodass ich mich fast ungläubig zu einer nächsten Frage aufbäume. Aber die kuriose Antwort kommt prompt. Er berichtet von einem ausgefallenen Konzert und von einem spontanen Ersatzgig auf einem Bauernhof bei Warendorf-Gröblingen am Abend, zu dem er uns einlädt. Mein Name stand wohl auch auf seiner Adressliste. „Wir wollen einfach spielen. Der Dieter und die anderen liegen im Bus, schlafen noch. Wir wollen einfach spielen. Wenn was ausfällt, rufe ich alle möglichen Leute an, um was klar zu machen.“ In heutigen Smartphone-oder Email-Zeiten war das damals eine schier unfassbare, logistische Leistung, aber auch der Spontancharakter des Improvisierens steckte dahinter, der immer zu Christians Seele gehört hat.

Immer gesprächsbereit – Christian mit Uli Trepte von Guru Guru / Bildquelle: Embryo

Wir sitzen zwei Stunden zusammen, und was Christian erlebt hat, was er an diesem Tag zu erzählen hat und was er vielleicht auch schon anderswo so oder anders erzählt hat, würde man in der Literatur einen „stream of consciousness“ nennen, eine einzigartige Bewusstseinsströmung an Erinnerungen und Gedanken. Ich habe die handschriftlich aufgezeichneten Gesprächsnotizen damals in eine Kladde gepackt, diese dann verloren, sie dann wiedergefunden, die Notizen 2002 während meiner Zeit in Polen als Word-Dokument auf einer Diskette gespeichert, die Kladde wieder verloren, die Diskette bei späteren, etlichen Umzügen auch verloren geglaubt, um sie dann im Sommer 2017 zufällig in einem Karton voller Kabel wiederzufinden. Keine Ahnung, wie ich so fahrlässig mit dem Schatz verfahren konnte. Eine einzige Odyssee, das Ganze, fast wie die von Ziryāb oder die der Band Embryo, die 1994 zum Zeitpunkt unserer Begegnung umgerechnet etwas über zwei Millionen Buskilometer hinter sich gehabt haben dürfte. Wenn man durchschnittlich Hundertausend Kilometer pro Jahr seit Bandbestehen 1968/1969 hochrechnet, kommt man auf diese Zahl.

Arabische Buchstaben waren 1978 in Indien ein Problem – Bildquelle: Embryo

Jetzt unterhalten wir uns also. Unterhalten ist vielleicht zu viel gesagt. Christian redet die meiste Zeit, weil er etwas zu erzählen hat. Meine Freundin und ich, beide nicht bekannt für unsere Schweigsamkeit, hören nun gebannt zu, ich mit Griffel in der Hand, der diesem Erzählfluss kaum folgen kann. Christian redet über den Kroatienkrieg (1991-1995), den Bosnienkrieg (1992-1995), über die Spannungen zwischen Ethnien und Kulturen im sich auflösenden Jugoslawien. „Unter Tito war da noch alles ruhig. Alles cool, alles locker. Alle Ethnien respektierten sich. Und dann kommen da Leute, die zündeln, die sagen, wir sind die, und ihr seid die, und wir sind das Volk, anders und besser, und ihr seid als Volk blöd, eure Religion ist blöd.“ (Anmerkung: Gemeint gewesen sind wohl unter anderem der Serbe Slobodan Milošević oder auch der Kroate Franjo Tuđman.) „Ich kenn das alles. Wir waren damals da in Jugoslawien, ja gut, in den Achtzigern, da waren die jungen Leute voll drauf, auf Klebstoff, haben Klebstoff geschnüffelt, war deren Droge, ne, so was habe ich auch noch nicht gesehen. Irgendwie perspektivlos das Ganze. Aber die waren auf Frieden, und keiner sagte da, ich bin Kroate, Serbe, Slowene oder so. Den ganzen Scheiß haben wir auch auf unserer Indienreise erlebt. Ist überall dasselbe mit den Fanatikern. In Indien fingen dann plötzlich Leute an, uns zu beschimpfen, weil wir arabische Buchstaben auf unserem Bus hatten. Dachten, wir wären muslimische Fanatiker. Ne, leben und leben lassen. Bin für Anarchie. Eigentlich kannste alle Staaten abschaffen.“ Ich protestiere erstmals und antworte: „Dann hast du aber Chaos.“ Er schaut mich an und lacht. „Chaos ist überlebenswichtig für die Kunst. Zwang geht nicht. Meine Tochter Marja lernt gerade, was Musik ist. Zwingen tue ich aber nicht. Man muss Lust dazu haben. Vielleicht macht sie das alles mal weiter, aber zwingen, ne. Aus Zwang entstehen Konflikte und Kriege. Und das eigentliche Verbrechen hat System. Guck dir Auschwitz an. Alles bis ins Perfide durchorganisiert.“ Jetzt stimme ich zu. Er ergänzt: „Ne, mit Anarchie machste nichts kaputt. Und wenn sich Leute an die Gurgel gehen wolln, machen se das sowieso… [Bruch in den Aufzeichnungen]… Waren in der DDR 1989. Kommunismus, yeah…. Haben da billig Instrumente gekauft. Waren mit Nigerianern da. Auch son Ding. Das ist ja weltoffen da gewesen. Viele Kulturen und so, ne. War Propaganda. Aber Freiheit haben die da eigentlich nicht gehabt. Ne, leben und leben lassen. Da fährste am besten mit.“

Christian wurde in Marokko von Kindern als Papa Burchard begrüßt – Bildquelle: Embryo

Ich erzähle ihm dann, dass ich mein Lehramtsstudium der Germanistik und Geschichte schmeißen will, mich für den Islam und Ethnologie interessiere. Da erzählt er mir prompt diese Geschichte über den Oud-Spieler Ziryāb, und was der Islam und die vielen Kulturen dort im arabischen Raum an Schätzen biete. „Mach’s doch einfach. Das ist super, ne.“ Eine halbe Stunde lang berichtet er uns dann vom Land Marokko, erzählt uns begeistert davon, wie die Musiker da ticken, wie sie (die Band) da immer wieder von ihnen familiär aufgenommen werden. Ich höre zu und entscheide in diesem Augenblick, im nächsten Semester mit dem Studium der Islamwissenschaft und Ethnologie zu beginnen. Nur Geschichte will ich als Fach behalten. Es ist nicht allein, was Christian erzählt hat, sondern wie er es erzählt hat. Heute weiß ich, dass die Aufenthalte in Ägypten und Marokko auch auf die Art seiner Erzählweise einen sehr nachhaltigen Einfluss gehabt haben müssen. Das hängt mit der oralen Tradtion zusammen, die sich noch heute in der Mentalität der Menschen aus dem Nahen Osten und Nordafrika niederschlägt.

Mich hat es bei diesem ersten persönlicheren Gespräch umgehauen, und wie sehr man ein Mensch bei ihm war, wie wenig Künstlermarotten er gehabt hat, wie nah er an der Basis gewesen ist und wie er uns beim Abschied beide umarmt hat und sich für das tolle Gespräch bedankt hat. Das alles war Christians Seele, und es braucht nicht mehr ganz viele Worte, um jeden verstehen zu lassen, dass dieser großartige Künstler auch fehlt, weil er ein warmherziger Mensch war. Viele Menschen weltweit, die ähnliche Erlebnisse mit ihm hatten, vermissen ihn sehr.

Das Konzert abends, zu dem mein Bruder und ich dann hingingen, begann gegen Mitternacht und war wohl so surreal wie vieles von dem, was sich im Laufe der Bandgeschichte zugetragen hat. Wir traten in eine alte Bauernscheune ein, und hoch oben auf dem Heuboden saßen Menschen mit baumelnden Füßen, betrunken, angeheitert, angeregt. Unter ihnen mein Abikollege und Freund Frank, der leider nicht mehr viel von dem Erlebnis weiß. Es war wie bei der Muppet-Show, allein die Fäden fehlten. Vor dem Konzert grüßte Christian mich kurz noch einmal und verwies auf Chris Karrer. „Du hast doch so viele Fragen zu Baader und Meinhof und zu Düül gehabt vor zwei Jahren. Frag ihn einfach noch mal.“ Ich ging dann kurz zu Chris Karrer, aber der war irgendwie an diesem Abend nicht so zugänglich. Etwa dreißig Leute wohnten dem Konzert bei, das wir leider etwas früher verließen, weil mein Bruder am nächsten Tag früh raus musste. Aber es war für uns damals einmalig. Erst später hörte ich, wie viele Sessions Embryo auf diese Weise gehalten hat. In der tieferen Auseinandersetzung mit der Bandgeschichte und der Bandgegenwart ist mir natürlich zu Ohren gekommen, welche Schwierigkeiten es im persönlichen Umgang mit Christian Burchard mitunter gab. Das ist für einige langjährige Wegbegleiter mit Verletzungen und Enttäuschungen verbunden gewesen. Und doch meine ich, dass sein Weg sein Weg war, den er persönlich gehen musste. Er hat dafür sehr viel hergegeben, auch vielen jungen Musikern einen Weg geebnet, der sie bis heute prägt. Er hat nie ein böses Wort über andere Menschen verloren, und das sollte man ihm bei den schmerzlichen Erfahrungen, die auch er im Laufe der nun fast fünzigjährigen Bandgeschichte erleben musste, hoch anrechnen. In diesem Sinne: R.I.P. Christian! Für dich habe ich das Nachfolgende besonders gerne festgehalten, und ich hoffe doch sehr, dass die vielen Menschen, die Embryo als Musikgruppe auf Konzerten erlebt haben, auch diesen Blog lesen und einmal mehr erfahren, dass diese Band einzigartig war und mit Tochter Marja einzigartig bleibt.

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